Fachvortrag Dr. Ilja Seifert, behinderten- und tourismuspolitischer Sprecher DIE LINKE im Bundestag

Tourismuspolitische Leitbilder der LINKEN

Vielen Dank für die herzliche Begrüßung. Den Applaus hätte ich lieber hinterher, wenn ich ihn mir verdient habe, dann aber richtig. Ich freue mich sehr, dass die Thüringer Landtagsfraktion jetzt zu einer solchen Konferenz eingeladen hat, denn der Tourismus und die Tourismuspolitik, das darf man glaube ich mit Fug und Recht sagen, ist eines der Politikfelder, auf denen sich nicht so richtig gestritten wird, wo die Kooperationen zwischen Opposition und Regierungen egal welcher Couleur durchaus funktionieren. Ich kann das aus dem Bundestag wirklich mit gutem Gewissen sagen. Der Tourismusausschuss ist einer von denen, in dem mehr kooperiert wird, als dass man gegeneinander ist. Ich finde, das darf man ruhig mal sagen, so selbstverständlich ist das nicht. Das heißt nicht, dass man sich in der Sache nicht einmal streitet, aber der Ton ist ein anderer als in manchen anderen Ausschüssen. Ich kenne das sehr gut und ich will das durchaus positiv hervorheben.

Ich habe den Eindruck, dass es hier auch so ist, dass das Ziel darin besteht, die Attraktivität des Bundeslandes gemeinsam hervorzuheben und gemeinsam die Möglichkeit zu schaffen, dass Menschen sich hier erholen können – und zwar so, dass es, wie man es heute sagt, nachhaltig geschieht, und zwar nachhaltig sowohl für die, die sich hierher begeben und sich hier erholen wollen, als auch für die, die die Arbeit machen, die diese Dienstleistungen erbringen und auch für die, die hier wohnen und von den Gästen nicht mehr genervt, sondern erfreut sein sollen. Unter all diesen Vorzeichen, die ich jetzt genannt habe, hat DIE LINKE. schon vor Jahren tourismuspolitische Leitbilder entwickelt. Was ist denn eigentlich spezifisch links, was ist denn eigentlich – wir sind eine linkssozialistische Partei – das Charakteristische für unsere Herangehensweise an Tourismuspolitik?

Der Wirtschaftsfaktor ist hier schon mehrfach erwähnt wurden und liegt auch für jeden auf der Hand, völlig klar. Wir sagen aber, indem wir uns auch auf die UNWto, also die Weltorganisation des Tourismus beziehen und dort den Ethikkodex sehr hervorheben – den sollte man sich durchaus mal ansehen, wenn man im Tourismusgewerbe beschäftigt ist –, wir sagen, wir brauchen auch eine soziale Komponente des Tourismus, die wir hervorheben. Das ist unser erstes Leitbild: Reisen für alle muss möglich sein. Reisen für alle heißt, dass es eben, obwohl Deutschland Reiseweltmeister ist, ganze Bevölkerungsschichten gibt, die davon ausgeschlossen sind und das können wir nicht wirklich wollen. Das betrifft Migrantinnen und Migranten, die zum Beispiel Klassenfahrten aus welchen Gründen auch immer nicht mitmachen können. Das betrifft Kinder ärmerer Eltern, wo genau dasselbe geschieht – diese werden dann immer zwei Tage vorher krank usw., weil sie sich die Klassenfahrt nicht leisten können. Das betrifft Menschen mit Behinderung, das betrifft auch Ältere, die eben nicht die reichen Silberhaare sind, sondern doch in sehr prekären finanziellen Verhältnissen leben. Und dennoch haben all diese Menschen das Recht, ihre Lebenskraft, ihre Arbeitskraft, aber auch ihre normale Teilhabekraft zu regenerieren. Dazu braucht man Erholung, dazu braucht man unter Umständen einmal einen Ortswechsel und nicht immer nur zum Baggersee, sondern vielleicht auch einmal ein Stück weiter. Reisen für alle heißt nicht, dass alle unbedingt immer Weltreisen machen müssen, aber es heißt, dass man auch einmal andere Gegenden kennenlernen muss, weil wir die tiefe Überzeugung haben, dass sich Weltanschauung auch dadurch ausprägt, dass man sich die Welt anschaut. Das ist nicht der einzige Punkt, aber auch einer. Deshalb also dieser soziale Aspekt, er ist einer der wichtigsten – darunter zählen Kinder- und Jugendreisen, darunter zählen wiederum SchülerInnen und Lehrer und Klassenfahrten. Wir meinen also z.B., wenn man Tourismuspolitik richtig machen will, dann betrifft das die Kommunalpolitik genauso wie die Wirtschaftspolitik, betrifft die Finanzpolitik genauso wie die Gesundheitspolitik (wenn ich an Wellness und Gesundheitstourismus denke, Kuren usw.), betrifft aber auch die Bildungspolitik. Wenn wir es wirklich erst meinen wollen – ich bin immer noch bei dem ersten Leitbild –, dann müssen wir endlich einmal dazu kommen, dass

Klassenfahrten Teil des Unterrichtsprogrammes, Teil des Lehrauftrages sind und nicht, dass die Lehrer das machen, weil sie gerade gute Laune haben und dann auch nicht wissen, wie sie versichert sind, wenn sie mit den Kindern unterwegs sind. Also das hat etwas weit über die reine Tourismuspolitik hinaus zu tun.

Zweiter Punkt, der uns genauso wichtig ist, ist ebenfalls ein sozialer, nämlich die Rechte derjenigen, die im Tourismus beschäftigt sind, zu stärken. Ich weiß nicht, ob es allen Leute bekannt ist, ich sage es einmal: In Deutschland sind im Tourismusgewerbe mehr Menschen beschäftigt als in der gesamten Automobil- und Chemieindustrie zusammen. Das ist also ein riesiger Anteil von Menschen, die vom Tourismusgewerbe leben, und die müssen gut leben, denn sie sollen schließlich Menschen Freude bereiten, indem sie Dienstleistungen vollbringen. Jemand, der selbst nicht weiß, wie er gerade so über die Runden kommt, der kann auch nicht so richtig gute Laune ausstrahlen, wenn Gäste kommen und Wünsche äußern, und sagen, selbstverständlich erfülle ich die gern, weil das zu meinem Selbstverständnis gehört und weil ich auch selbst will, dass Sie sich wohlfühlen, weil ich ja auch einmal verreise. Das wurde ja schon von Bodo Ramelow gesagt: Wenn ich verreise, möchte ich auch bestimmte Dienstleistungen in Anspruch nehmen können. Also, die Rechte der im Tourismusgewerbe Beschäftigten zum Beispiel durch einen vernünftigen Mindestlohn zu sichern, z.B. durch intelligente Lösungen, dass ganzjährige Beschäftigung möglich ist, wenn es nicht in der Beherbergungsstätte ist, dann vielleicht durch intelligente Verbindung verschiedener Arbeitsplätze. Da gibt es viele Möglichkeiten, die zum Beispiel über die OITS, die Weltsozialtourismusorganisation, durchaus im Erfahrungsaustausch verbreitet werden können. Wir, die LINKEN, sind sehr dafür, dass Deutschland dieser OITS beitritt, bis jetzt wurde das abgelehnt. Da handelt es sich um lediglich 6.000 oder 7.000 Euro Beitrag im Jahr, also um geringe Beträge, die es ermöglichten, diesen Erfahrungsaustausch auch auf staatlicher Seite zu pflegen.

Unser drittes Leitbild ist Barrierefreiheit in der gesamten touristischen Kette. Es wurde hier schon davon geredet, dass der Tourismus natürlich eine lange Kette von Aufgaben und eine lange Wertschöpfungskette hat, aber diese ganze Wertschöpfungskette bietet auch überall Möglichkeiten, wo ich Barrieren abbauen kann. Das fängt bei der Internetpräsentation an. Kann ich mich denn als blinder Mensch überhaupt informieren, wie die Destination ist oder nicht, erfahre ich nur etwas über mein Hotel oder erfahre ich auch etwas über die ganze Region? Das ist ja hier eines der Themen – die gemeinsame Vermarktung, die sehr wichtig ist. Wie komme ich aus meiner Wohnung heraus, wie kriege ich mein Gepäck zum Zielort, wie kann ich bequem fahren, wie kann ich die Attraktionen am Ort nutzen, finde dort auch eine Toilette usw.? Das alles zeigt sich wiederum, wenn man es für Menschen mit Behinderung ordentlich organisiert, also Barrieren für Rollstuhlfahrer, für blinde Menschen abbaut. Das nützt den Einheimischen auch, ein Beispiel aus dem Städtetourismus: In Berlin haben wir über 200 barrierefreie Toiletten auf den Straßen stehen. Das ist für die Einheimischen genauso gut. Niemand redet gern über Toiletten, aber wenn man eine braucht, gibt es kaum etwas Wichtigeres als diese Einrichtung. Wenn wir das schaffen, überall barrierefreie Toiletten hinzusetzen, die auch Rollstuhlfahrer benutzen können, dann kann jeder Fußgänger das auch. Umgedreht geht es nicht und da zeigt sich z.B. der Nebeneffekt, dass die Eltern ihren Kinderwagen mitnehmen können, wenn sie einmal da rein müssen – Kind ist sicher, es wird nicht nass usw. Es gibt also Synergieeffekte, die überhaupt nicht geplant und trotzdem positiv sind. Die Auswirkungen auf die Kommune sind größer als auf die Touristen, die vielleicht zwei Wochen zu Gast sind, und deshalb ist uns dieser Aspekt so wichtig.

Der vierte Punkt, den wir besonders hervorheben, ist der ökologische Aspekt. Der Tourismus ist Opfer und Täter gleichzeitig. Der Tourismus lebt von der schönen Landschaft, lebt von der Ökologie, aber er trägt auch zu deren Zerstörung bei oder kann zumindest zu deren Zerstörung beitragen. Also müssen wir Wege finden, dass das nicht geschieht. Es nützt ja nichts, wenn alle den Rennsteig kaputtwandern, dann kann man anschließend nicht mehr hin. Man muss dafür sorgen, dass das sanfter geschieht. Deswegen sind wir sehr dafür, Wandertourismus, Reittourismus, Wassertourismus, Fahrradtourismus zu fördern und nicht nur mit großen dicken Autos in der Gegend herumzufahren und mit dicken Flugzeugen weit zu fliegen.

Das fünfte Leitbild ist vielleicht auch für Thüringen interessant: die Entwicklung des ländlichen Raums. Eine Stadt braucht man heute nicht großartig zu vermarkten, das läuft zurzeit gerade von selbst, jedenfalls bei den ganz großen. Weimar muss jetzt nicht unbedingt viel beworben werben, man darf es nicht vergessen, aber drei Dörfer weiter sieht es wahrscheinlich ganz anders aus.

Deshalb ist das ein wichtiger Punkt, den wir auch sehen, um – Verbindung zum ersten Punkt – die Möglichkeiten für Menschen, die wenig Geld haben, zu finden, sich ebenfalls zu erholen, und zwar nicht in minderer Qualität, sondern in einer anderen Qualität, ruhiger und vielleicht etwas preiswerter. Das sind Dinge, die wir als Leitbilder linker Tourismuspolitik sehen. Ich darf vielleicht hinzufügen: Die Bundesregierung hat zwei Jahre später eigene tourismuspolitische Leitlinien entwickelt. Das sind acht. In sieben von diesen acht Punkten kommt der Begriff barrierefreier Tourismus sehr deutlich, sehr prominent vor – auch dort, um die gesamte touristische Kette zu entwickeln. Es zeigt sich, damit schließe ich den Kreis zu meinen Eingangsbemerkungen, dass die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet durchaus funktioniert. Als wir unsere tourismuspolitischen Leitbilder verabschiedet haben, da war der damalige Tourismusbeauftragte der Bundesregierung, Ernst Hinsken, Gast unserer Veranstaltung, und das ist so selbstverständlich nicht, dass ein CDU-Mann nun zu den LINKEN kommt. Aber er hatte da keine Hemmung, zwischen Gysi und mir zu sitzen und das ging auch ganz gut. Das heißt also, wir sind in diesen Punkten durchaus in der Lage, zu kooperieren, ohne dass man sein Profil verliert. Wir sind in der Lage zu kooperieren und das betone ich ausdrücklich: von beiden Seiten. In diesem Sinne wünsche ich der Veranstaltung einen großen Erfolg. Ich denke, wir werden da auch vorankommen. Bis jetzt habe ich den Eindruck, das Klima ist hier so ähnlich, wie ich es gerade beschrieben habe.