Koalitionsvertrag

1. PRÄAMBEL

Thüringen gemeinsam voranbringen – demokratisch, sozial, ökologisch

Ein Vierteljahrhundert nach der friedlichen Revolution gehen DIE LINKE, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erstmals eine Koalition ein. Wir bilden eine Landesregierung, die auf dem Erreichten aufbaut, Bewährtes sichert und entschlossen neue Wege geht. Demokratie lebt von Veränderung, Teilhabe und Erfahrung. Wir übernehmen Verantwortung für Thüringen und stellen uns einer ernsthaften Aufarbeitung der Vergangenheit. Wir wollen in der Landespolitik eine neue Kultur des Zuhörens und Mitmachens etablieren, die auf die konstruktive Suche nach der besten Lösung für die in Thüringen lebenden Menschen setzt und diejenigen zusammenführt, die Thüringen gemeinsam voranbringen wollen. Wir bilden eine Landesregierung, die sich auch denen zuwendet, die andere Überzeugungen und Ideen haben. Wir treten mit ihnen in den Dialog und suchen nach gemeinsamen Wegen.

Die Entwicklung, die der Freistaat Thüringen seit der 1989/1990 gewonnenen Freiheit genommen hat, ist trotz teils schwieriger und schmerzhafter Veränderungsprozesse beeindruckend. Das ist die große Leistung der Bürgerinnen und Bürger, der demokratischen Parteien, Gewerkschaften, Unternehmen, Verbände, Initiativen, Vereine, Kirchen und ehrenamtlich Engagierter. Viel wurde in den vergangenen 25 Jahren geschafft, aber noch können nicht alle davon profitieren. Noch liegen große Herausforderungen vor uns. Auf diesem Weg möchten wir niemanden zurücklassen.

Thüringen ist ein Land im Wandel. Die neue Landesregierung wird diesen Wandel gestalten: sozial gerecht, demokratisch und ökologisch. Die Stärkung des sozialen Zusammenhalts und der Zivilgesellschaft sind Schlüsselaufgaben für die Zukunftsfähigkeit des Landes. Wir werden uns für gute Arbeit, gegen Niedriglöhne und prekäre Beschäftigungsverhältnisse einsetzen und wollen die natürlichen Lebensgrundlagen für kommende Generationen schützen. Der demografische Wandel verlangt nach bürgernahen und demokratischen Lösungen. Gleichzeitig müssen wir die natürlichen Lebensgrundlagen für kommende Generationen schützen. Der fortschreitende Flächen- und Ressourcenverbrauch auf Kosten der Natur und der Artenvielfalt ist eine große Herausforderung und verlangt ressortübergreifende Anstrengungen. Wir setzen neue Impulse für gute Bildung vom Kindergarten bis zur lebenslangen Weiterbildung. Die reiche kulturelle Landschaft Thüringens ist ein Alleinstellungsmerkmal, das wir bewahren und entwickeln wollen. Wir wollen Bürgerinnen und Bürgern mehr direkte Mitbestimmung im Land und in den Kommunen ermöglichen. Die Chancen, die die Energiewende für Thüringen birgt, werden wir konsequent nutzen. Trotz des auslaufenden Solidarpakts, sinkender EU-Fördermittel und einer wechselhaften Konjunktur soll unsere Finanzpolitik nachhaltig sein und Spielräume für notwendige Investitionen lassen. Die Kommunen brauchen finanzielle Unterstützung, um ihre Aufgaben zuverlässig zu erfüllen. Thüringen muss ein weltoffenes Land sein, das Menschen willkommen heißt und Zuwanderung als Bereicherung versteht. Flüchtlinge finden in Thüringen eine humanitäre Aufnahme.

Der Kampf gegen alte und neue Nazis, gegen Rassismus und Antisemitismus muss entschlossen fortgesetzt werden. Unter dem Eindruck der abscheulichen Verbrechen des sogenannten „NSU“, dessen Ursprünge in Thüringen und dem Versagen der hiesigen Sicherheitsbehörden liegen, bekennen sich DIE LINKE, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingedenk der Opfer jener rassistischen und rechtsterroristischen Gewalttaten zu der hieraus erwachsenden besonderen Verantwortung. Die Empfehlungen des Untersuchungsausschusses „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“ werden wir aufgreifen und zum Maßstab unserer Reformen der Thüringer Sicherheitsarchitektur erheben. So werden wir eine Verfassungsschutzreform umsetzen, die Schluss macht mit einem intransparenten und unzuverlässigen V-Leute-System. Wir werden die Aufarbeitung und Untersuchung der damaligen Vorgänge fortführen und gemeinsam einen neuen NSU-Untersuchungsausschuss im Landtag einsetzen. Neonazistische Organisationen und Vereine werden in Thüringen künftig konsequent bekämpft. Die Opfer des NSU werden wir durch die Einrichtung eines Thüringer Gedenkortes ehren.

Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die SPD als Parteien, die in und aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR hervorgegangen sind, ebenso wie für die Partei DIE LINKE ist die Aufarbeitung der SED-Diktatur in all ihren Facetten weder überflüssig noch rückwärtsgewandt. Dabei geht es um eine demokratische Kultur von morgen. Für eine Aufarbeitung in die Gesellschaft hinein ist es von Bedeutung festzuhalten: die DDR war eine Diktatur, kein Rechtsstaat. Weil durch unfreie Wahlen bereits die strukturelle demokratische Legitimation staatlichen Handelns fehlte, weil jedes Recht und jede Gerechtigkeit in der DDR ein Ende haben konnte, wenn einer der kleinen oder großen Mächtigen es so wollte, weil jedes Recht und jede Gerechtigkeit für diejenigen verloren waren, die sich nicht systemkonform verhielten, war die DDR in der Konsequenz ein Unrechtsstaat. Daraus erwächst besondere Verantwortung. Wir vereinbaren deshalb engagierte, auf lange Sicht angelegte Projekte der politischen Bildung, in denen die Vergangenheit der DDR vielfältig und beispielhaft für die gesamte Bundesrepublik aufgearbeitet werden. Dabei geht es um eine politische Bildung insbesondere mit dem Ziel der Bildung zur Demokratie. Das ist nicht gleichbedeutend mit der Herabwürdigung von Biografien, allerdings hat sich jedes Leben in der DDR eben dort abgespielt und nicht im luftleeren Raum. Wir müssen die enge Sichtweise, hier Täter – immer gleichbedeutend mit einer Zusammen- oder Mitarbeit im Ministerium für Staatssicherheit – und dort Opfer, die nur Opfer sind, wenn sie z.B. inhaftiert waren, erweitern. Vielmehr geht es um eine konsequente und schonungslose Aufarbeitung der Alltagsdiktatur. Nur so kann Aufarbeitung im gesellschaftlichen Rahmen gelingen, nur so lässt sich für heute daraus lernen. Nicht nur die heute gut dokumentierte Einflussnahme der Staatssicherheit, die „Schild und Schwert der SED“ war, auf den Lebensweg und die Freiheit eines einzelnen Menschen, sondern die unerträgliche Einflussname in alle Bereiche des Lebens in der DDR durch den von der SED geführten Staat, wollen wir aufarbeiten. Die ostdeutsche Friedensbewegung, Umwelt- und Bürgerbewegungen, kirchliche Gruppierungen sowie die 1989 wieder gegründete, zuvor von der SED unterdrückte und verfolgte Sozialdemokratie haben entscheidend zur friedlichen Revolution in der DDR beigetragen.

Wenn nun 25 Jahre nach der friedlichen Revolution, im 70. Jahr der Befreiung vom Nationalsozialismus und 95 Jahre nach Gründung der Weimarer Republik die drei Parteien DIE LINKE, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Koalition eingehen, so sind sie sich der Verantwortung bewusst, die aus der jüngeren deutschen Geschichte erwächst.

Die NS-Herrschaft hat tiefe Spuren in Thüringen hinterlassen. Die Shoa mit sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden, der Völkermord an hunderttausenden Sinti und Roma, die Tötung von über drei Millionen Kriegsgefangenen in deutscher Hand, die Verfolgung und Ermordung von Demokraten, Sozialdemokraten, Kommunisten oder anderen politischen Gegnerinnen und Gegnern, Schwulen und Lesben, sogenannten „Asozialen“ sowie religiös Diskriminierten, sind ein einmaliges Verbrechen in der Menschheitsgeschichte, dessen Relativierung die Vertragspartner von keiner Seite hinnehmen werden. Thüringen war von Anfang an ein wichtiger Ort für die NS-Herrschaft. Hier errichtete die NSDAP einen „Mustergau“, hier setzte unter einem nationalsozialistischen Innenminister die Verfolgung politischer Gegnerinnen und Gegner bereits lange vor der Machtübergabe an die Nationalsozialisten ein, hier stand mit dem KZ Buchenwald ein Konzentrationslager, das im System nationalsozialistischer Vernichtungslager eine besondere Rolle einnahm. Die Erfurter Firma Topf & Söhne, Lieferant der Krematorien von Auschwitz-Birkenau, steht sinnbildlich für die technische Durchführung der Shoa. Daraus erwächst auch für die neue Landesregierung eine besondere Verantwortung, die wir in konkretes Handeln umsetzen. Wir werden die Thüringer Gedenkorte, Gedenksteine und -tafeln erhalten und ausbauen.

Wir werden das Gedenken vor Ort unterstützen, die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus, an die jüdische Geschichte und an den antifaschistischen Widerstand. Die Erinnerung an die NS-Herrschaft muss eine wichtige Rolle in der schulischen, außerschulischen und Erwachsenenbildung spielen. Wir werden Wissenschaft und Forschung fördern, die die Ursachen für die Entstehung der nationalsozialistischen Bewegung vor 1933 und das NS-Herrschaftssystem von 1933 bis 1945 sowie dessen Nachwirkungen aufarbeitet und sich dem jüdischen Leben, der Nachwirkung des Nationalsozialismus, des antifaschistischen Widerstands und dem Leben vertriebener Thüringerinnen und Thüringer im Exil widmet.

Im Bewusstsein unserer unterschiedlichen politischen Herkunft wenden wir uns gemeinsam den großen Zukunftsaufgaben unseres Landes zu. Wir werden gemeinsam eine Politik verwirklichen, die den sozialen Ausgleich stärkt, für handlungsfähige Kommunen sorgt, mehr direkte Demokratie wagt und die Energiewende konsequent umsetzt. Die neue Landesregierung wird die Prioritäten ihrer Politik an gemeinsam verabredeten Leitprojekten ausrichten, in denen wir Mehrausgaben konzentrieren, ohne dafür neue Schulden zu machen:

Gute Arbeit: Durch aktive Wirtschaftspolitik wollen wir dazu beitragen, dass gut bezahlte Arbeitsplätze geschaffen und gesichert werden. Das Landesarbeitsmarktprogramm werden wir im bisherigen Umfang weiter fortführen. Zur Förderung von Langzeitarbeitslosen werden wir gemeinwohlorientierte Beschäftigung finanzieren. Für die Beschäftigten im Pflege-, Kita- und Jugendbereich wollen wir mit den Sozialpartnern gute Löhne und Arbeitsbedingungen in Tarifverträgen vereinbaren. Wir wenden uns gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse.

Gute Bildung: Wir verstehen die Umsetzung notwendiger Weiterentwicklungen im Bildungs- und Kulturbereich nicht als Prozess, der von oben verordnet wird, sondern als Weg, den wir gemeinsam mit allen Akteuren gehen wollen und für den wir Gelingensbedingungen schaffen. Wir stellen ein Kita-Jahr beitragsfrei und schaffen dafür das Landeserziehungsgeld ab. Den Schulunterricht werden wir durch die Neueinstellung von 500 Lehrerinnen und Lehrern pro Jahr und die Unterstützung längeren gemeinsamen Lernens verbessern. Wir werden die freien Schulen in Thüringen stärken. Alle Thüringer Hochschulstandorte werden erhalten. Das Landesprogramm für Toleranz wird in ein Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und Homophobie umgewandelt und um eine Million Euro aufgestockt. Die mobilen Beratungsstellen gegen rechts werden wir dauerhaft institutionell absichern.

Starke Kommunen: Wir werden die finanzielle Situation der Kommunen verbessern, indem wir den kommunalen Finanzausgleich erhöhen und Kommunen, die sich in der Haushaltskonsolidierung befinden, Investitionen ermöglichen. Das kulturelle Erbe Thüringens werden wir erhalten. Wir senken das aktive kommunale Wahlalter auf 16 Jahre und bauen die direkte Mitbestimmung auf kommunaler Ebene aus. Wir wollen das Vorhaben einer Verwaltungs- und Gebietsreform angehen.

Klimaschutz und Energiewende: Wir nehmen unsere Verantwortung für den Klimaschutz ernst und wollen, dass Thüringen seinen Energiebedarf mittelfristig zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien decken kann. Dazu wollen wir die Energiegewinnung durch Windkraft ausbauen. Wir werden bis 2015 unter intensiver Einbeziehung der Kommunen eine Energiestrategie 2040 erarbeiten. Wir werden ein Investitionsprogramm auflegen, mit dem Thüringer Schulen als Energiesparschulen energetisch saniert werden.